Stesichoros

Die Tafel steht geschmückt zum Mahle,
Mit Laub ist der Pokal bekränzt
Und funkelt zu dem Fackelstrahle,
Der von den Wänden niederglänzt;
Doch leer von Gästen bleibt die Halle
Des alternden Stesichoros,
Durch die sich einst bei Flötenschalle
Der Festgenossen Schwarm ergoß.

Und trauernd spricht der greise Sänger:
»So bin ich wieder nun allein;
Als wär' ich nicht der Ihre länger,
Fliehn mich der Menschen frohe Reihn;
Nicht einer blieb mir der Gefährten
Zum festlichen Symposion,
Und mit den Frommen, die sie ehrten,
Sind auch die Himmlischen entflohn.

O Wonne, wenn die Thyrsusstäbe
Wir jubelnd schwangen himmelan,
Und in das goldne Naß der Rebe
Die Thräne der Begeistrung rann;
Wenn in den Arm ich dann die Leier,
Die heil'ge, nahm und weihevoll
Der Hymnus zu der Götter Feier,
Zum Lobe der Heroen scholl!

Das alles schwand; zurückgeblieben
Bin ich in einer fremden Welt;
Was sie mißachtet, muß ich lieben,
Und hassen das, was ihr gefällt;
Den Alten fassen nicht die Jungen,
Vergebens war's, daß ich gestrebt,
Und meine Lieder sind verklungen,
Als hätt' ich nimmerdar gelebt.«

Er spricht es; auf des Sessels Lehne
Ist trauervoll sein Haupt gesenkt;
An seiner Wimper bebt die Thräne,
Indes er alter Zeiten denkt.
Da sieh was schimmert durch die Aeste
Vor seiner Halle silberweiß?
Wer sind die ungewohnten Gäste?
Wer naht dem weltverlass'nen Greis?

Ein Jüngling ist's im Festtalare,
Ums Haupt den priesterlichen Kranz;
Die Stirn ihm und die Lockenhaare
Umwallt ein wunderbarer Glanz;
In Händen goldne Opferschalen,
Folgt schüchtern ihm ein Jungfraunchor;
Taghell beginnt die Nacht zu strahlen,
Wie sie hereinziehn durch das Thor.

Der Jüngling spricht: »Zur Tempelweihe
Nach Enna führt uns unser Amt;
Es dunkelt tief; drum, Freund, verleihe
Uns Obdach, bis der Morgen flammt!
Nicht fremd uns bist du; am Altare
Nur deine Lieder singen wir;
Für die Geschlechter künft'ger Jahre
Bewahren wir getreu sie dir.«

Die Gäste grüßte froh der Alte,
Sie nahmen Platz an seinem Mahl;
Aus reich gefüllten Bechern wallte
Der Duft ambrosisch durch den Saal;
Er aber goß die Opferspende:
»Ihr Himmlischen, nehmt dies zum Dank!
Noch einmal nun wird vor dem Ende
Das alte Herz mir froh beim Trank.«

Horch! festlich zu der Jungfraun Liede
Ertönt des Jünglings Leierton,
Wie droben wohl, wenn der Kronide
Dem Hymnus lauscht auf goldnem Thron
Und neben ihm, der Hand entsunken,
Sein Donnerkeil am Boden liegt,
Indes sein Adler, schlummertrunken,
Beim Klang sich auf dem Scepter wiegt.

»Nimmst du vom Auge mir die Binde,
O schöner Gott, der mich gepflegt
Und auf die Lippen schon dem Kinde
Der Dichtung Honigseim gelegt?
Seid ihr es, deren Odem leise
Mich oft umsäuselt im Gedicht,
Ihr heil'gen Neun? Zeigt ihr dem Greise
Eu'r hoch olympisch Angesicht?«

Der Dichter ruft es; mächt'ger schlagen
Die Wogen des Gesangs um ihn;
Doch Götterwonnen lang zu tragen
Ist nicht dem Sterblichen verliehn;
Mildschattend auf die Augen nieder
Senkt sich ihm Schlummerwolkennacht;
Gemach verhallt der Klang der Lieder;
Doch nimmer ist er mehr erwacht.

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